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Vom Leben mit einer Kamera im Kopf

Ich mag keine „Über-mich-Beiträge“ von Fotografen, die mit den Worten beginnen „eigentlich fotografiere ich schon immer…“ oder „zur Konfirmation bekam ich von meinem Opa eine alte Rollei…“   Sätze wie diese klingen in meinen Ohren entweder nach Rechtfertigung: „Ich kann`s zwar nicht, aber ich mache es ja schon immer“,  oder aber nach dem Statement, „meine Fotos sind schon deshalb gut, weil es mir in die Wiege gelegt wurde“.

Okay, nicht ganz frei von Sarkasmus. Doch Sätze wie diese sind -sorry -: viel zu oft gelesen. Offensichtlich gehören solche Sätze wohl nach Meinung vieler zum Storytelling-Marketing.

Mich hat Fotografie verändert. Und diesen Aspekt finde ich viel spannender als die Frage, was jemanden zur Fotografie gebracht hat. Was macht diese Leidenschaft mit einem?

Ich wache morgens auf: Der Fenstervorhang läßt einen Streifen der Wintersonne ins Zimmer. Ich folge diesem Streifen mit meinem Blick und bleibe an dessen Ende, einem Schattenspiel an der gegenüberliegenden Wand hängen: In ihm bilden Bettdecken, Kopfkissen, Ecken und Kanten des Bettes ein fulminantes Schattenspiel. Meine Kamera im Kopf fängt an Aufnahmen davon zu machen.

Ich  sitze in einer Kneipe. Hier darf noch geraucht werden. Ein dichter Schleier aus Qualm liegt in dem kleinen Raum und umhüllt die Menschen an den wenigen Tischen. Das Licht der dicht über den Köpfen hängenden Lampen malt Bilder in den Rauch, dazu die Gesichter der Karten spielenden Menschen. Meine Kamera im Kopf sucht Perspektiven, sieht Bildaufbau, Farben und Wirkung  und macht Fotos.

Ich schaue meiner Tochter zu, wie sie die Nachrichten auf ihrem Smartphone  liest. Ich habe sie länger nicht gesehen. Nun  sitzt sie mir gegenüber auf dem Sofa, in fast völliger Dunkelheit. Das kalte Licht des kleinen Bildschirms wirft harte Schatten in ihr Gesicht und unterstreicht ihr konzentriertes Tun.  Meine Kamera im Kopf legt den Ausschnitt fest und sofort nimmt das Bild im Kopf seine Form an.

Die Kamera im Kopf ist immer dabei. Und ich nerve meine Mitmenschen, wenn ich in Bildern versunken einem Lichtstrahl nachschaue, eine Szene wahrnehme, Menschen und Gesichter sehe und mir „ein Bild davon mache“. In den Bildern lese ich Lebensläufe und Geschichten. Mein Kopfkino ist im Gang.

Die Kamera im Kopf hat mein Leben verändert. Ich sehe, denke und fühle in Bildern, Farben, Formen, Perspektiven und Licht. Ich  studiere Gesichter und Situationen.

Einige sagen, ich habe eine Macke. Ja, mag sein.

Es ist kein Hobby. Es ist eine Leidenschaft.

Kennt Ihr Ähnliches?

12 Kommentare

  1. Moin Werner

    … damals, als kleiner Junge, gab es für mich so unheimlich vieles zum (be)staunen. Sie sagten, ich sei ein ‚Tagträumer‘. Ich wusste nicht was sie meinten – für mich war es einfach bewegend: In der Nusschale sitzend, ausgesetzt und mich treiben lassend, verbrachte ich viele Stunden.

    Später sass ich oft auf dem Ast im Baumversteck, beobachtete was abging. Verweigerung nannten sie es. Für sie nahm ich in solchen Momenten nicht teil. Sie glaubten etwas stimme nicht mit mir. Sie übten Druck aus, und , und… Schliesslich begann ich, weil ich musste, zu leben wie sie, nahm Teil an ihrem Tun. Tat in der Folge oft, als ob…

    Mit 57 bretterte ich an die Wand – Neudeutsch gesagt, hatte ich ein Burnout war ‚burned out‘ also ‚ausgebrannt‘.

    Was hatte ich bloss vergessen, was mich früher genährt hatte und die Flamme am Docht brennen liess und was offenbar nun fehlte? Ich hatte das ‚Staunen‘ vergessen – meine Kamera im Kopf ausgeschaltet. Seit einigen Jahren darf sie wieder, die Kamera… und ich habe gelernt dass wenn ich etwas nicht mit Leidenschaft mache, ich mir selber Leiden schaffe.

    Das Staunen und die Kamera im Kopf sind der ‚Mähdrescher’…

    … jedenfalls für mich und ich habe Freude, dass ich damit nicht ganz allein bin!

    Liebe Grüsse, Paul

    • AlleAugenblicke

      Ja, Paul… Du bist nicht alleine. – Wunderbare Worte. Danke!
      Lg,
      Werner

  2. HF

    Hallo Werner,
    oh ja, ähnliches kenne ich auch sehr gut! Was ich auch teile – Deine Einschätzung der beispielhaften Sätze zu „Was mich zur Fotografie gebracht hat“. Kein Schriftsteller würde schreiben: „Ich schreibe Romane, weil meine Oma mir einen Kugelschreiber geschenkt hat.“ In der Fotografie scheint das anders zu sein – schönes Wochenende und weiterhin viel Spass mit der Leidenschaft!
    Gruß, HF

  3. Lieber Werner,

    oh ja, das kenne ich, genau so, wie du es beschreibst. Einzelbilder, daher nutze ich die Film-Funktion meiner Kameras nie :-). Könnte ich ohne Fotografie leben? Vermutlich ja, denn ich habe ja die Kamera im Kopf. Aber der Aspekt, diese Bilder auch machen zu können, würde mir doch arg fehlen. Heinz Rühmann sagte: „Man kann ohne Hund leben, aber es lohnt sich nicht.“ Das würde ich für mich auf die Fotografie übertragen.

    Wir sind schon irgendwie Besessene 🙂

    Liebe Grüße

    Conny

    • AlleAugenblicke

      Hallo Conny,

      besessen und manchmal „bekloppt“. Einige halten das schon für sehr schräg. Aber ehrlich? Ich kann und will nicht anders …
      Lg,Werner

  4. Ach und das noch:

    “To me, photography is an art of observation. It´s about finding something interesting in an ordinary place… I´ve found it has little to do with the things you see and everything to do with the way you see them.” (Elliott Erwitt)

  5. Hallo Werner! Als erstes möchte ich Dir schreiben, dass ich die drei Beitragsbilder allesamt sehr gut finde, auch wenn ich neugierig auf die Drei Bilder gewesen wäre, Die Du NICHT gemacht hast. Die aus Deiner Kopfkamera. Ich frage mich oft, ob ich nicht mehr zeichnen sollte, um diese Bilder am Ende doch noch zu fassen aber dann fehlt es an Praxis, Zeit, Überwindung. Andere nennen das Teufelskreis oder inneren Schweinehund.

    Mir fällt auf, dass ich ähnlich wie Du mit der Kamera im Kopf herumlaufe. Wenn ich aber eine in der Hand habe, mache ich viele dieser Bilder dann doch nicht. Dann ist da keine Kamera mehr im Kopf. Dann ist da eine Schere. Wie wird man die los?

    Mein Rezept ist unromantisch: Ich nehme mir etwas vor. Serien. Nur so schaffe ich es vom Träumen aufs echte Fotografieren umzuschalten.

    • AlleAugenblicke

      Hallo Stefan,

      ja.. du sagst etwas sehr Wahres und etwas was mir so noch gar nicht bewußt geworden ist. Ich mache tatsächlich viele der Bilder, die im Kopf sind, dann auch nicht… Vielleicht sind Serien auch für mich ein Weg. Das nehme ich mal als „Input“ für mich mit. Danke für deine Anregung.
      Lg,
      Werner

      PS: Wenn ich zeichnen könnte…. ich würde es tun…

  6. Ein klasse Artikel und sehr ehrlich geschrieben. Mir geht es ähnlich, ich sehe Dinge, Situationen, Geschichten, Farben, Formen, Gefühle und möchte alle diese Dinge im Bild festhalten. Erstaunlicher Weise denke ich in diesen Momenten meist nicht an die Kamera, die ich fast immer dabei habe. Wenn der Moment vorbei ist und die Freude über das gesehene abklingt denke ich an das Bild was ich hätte machen können. Vielleicht sollte ich es auch mal mit Serien versuchen ….

    Liebe Grüße,
    Jörg

    PS: manche Bilder zeichne ich auf bevor ich sie mache … 😉

  7. Solange man es mit Leidenschaft macht ist alles im grünen Bereich! Der Rest entwickelt sich im Kopf und das nötige Auge produziert das Resultat.

    Liebe Grüße, Gerd

  8. Hallo Werner,
    mir geht es ganz genauso – selbst wenn ich ohne Kamera unterwegs bin, „mache ich Bilder“ im Kopf, suche mir Ausschnitte, Perspektiven, Stimmungen, nehme das Licht ganz anders wahr als früher…ich fotografiere ja noch nicht sooooo lange, aber die Fotografie hat definitiv meinen Blick auf die Dinge verändert und das ist auch gut so!
    LG, Netty

  9. Ja, natürlich kenne ich das. Die Kamera im Kopf ist so ein bisschen ein Analysefilter, wodurch das Gesehene durch muss, um zum Gehirn zu gelangen. Was macht gerade die Situation aus, den Moment?
    Das hat den Vorteil, dass ich noch bewusster sehe, auch das, was ich sonst nicht sehen würde. Aber auch den Nachteil, dass ich Bilder manchmal nicht mehr umgefiltert aufsaugen kann. So als ob ich als Gitarrist zwangsläufig dem Künstler spieltechnisch folge, anstatt nur zuzuhören. Das würde ich manchmal gerne trennen. Klappt teilweise, aber oft auch nicht.
    Letztendlich überwiegt aber die Bewusstwerdung durch das Fotografieren ohne Kamera, zuerst im Bild, dann aber auch in dessen Interpretation.
    Klasse Bilder übrigens!

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