{"id":4982,"date":"2020-04-15T11:00:00","date_gmt":"2020-04-15T09:00:00","guid":{"rendered":"https:\/\/alleaugenblicke.de\/?p=4982"},"modified":"2020-04-15T10:50:31","modified_gmt":"2020-04-15T08:50:31","slug":"die-schuhe-meines-vaters","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/alleaugenblicke.de\/die-schuhe-meines-vaters\/","title":{"rendered":"Die Schuhe meines Vaters"},"content":{"rendered":"\n

Ein Beitrag ohne #lockdown, #corona #westayathome <\/h2>\n\n\n\n

#covid-19 …… <\/h2>\n\n\n\n
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Schreiben: so wichtig wie das Fotografieren. Das Fotografieren ist schreiben mit den Augen. Schreiben ist fotografieren mit den Gedanken. Beides bedeutet mitunter der Welt einen Namen zu geben und den Dingen eine Geschichte. Im besten Fall sind Fotos eine eigenst\u00e4ndige Erz\u00e4hlung. Und eine gute Geschichte l\u00e4sst Bilder im Kopf entstehen. <\/p>\n\n\n\n

Ich bin in Gedanken weit zur\u00fcck gereist. An einen Ort meiner Kindheit: Ein Kleinstadt-Bahnhof, ein Triebwagen, Kaugummiautomat, schiefe Fenster und Kopfsteinpflaster. Bilder im Kopf wurden so zu einer Erz\u00e4hlung, die Erz\u00e4hlung wurde zu Fotos. <\/p>\n\n\n\n

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Wer mag kann sie auf der Folgeseite lesen: <\/p>\n\n\n\n\n\n\n\n

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Die Schuhe meines Vaters<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Ganz deutlich sehe ich das schwarz Paar Schuhe dort im Flur stehen: Frisch gewienert, auf Hochglanz poliert. \u00dcberhaupt sind sie gut gepflegt, wenngleich ihnen anzusehen ist, dass sie viel und oft benutzt worden sind. Doch der reichliche Einsatz schwarzer Schuhcreme und der beinahe t\u00e4gliche Einsatz von Lappen und B\u00fcrste haben ihnen gutgetan. Dieses Paar Schuhe, Gr\u00f6\u00dfe 43, haben ihren exklusiven Platz vor der billigen Kommode, in der alle anderen Schuhe unserer Familie ihren Platz haben.<\/p>\n\n\n\n

Warum ich dieses Bild auf einmal, nach mehr als vier Jahrzehnten, so klar und eindeutig vor mir sehe, wei\u00df ich nicht. Es ist so deutlich, ich meine sogar den eigenartigen Geruch der Schuhcreme, mit der sie geputzt wurden, in der Nase zu haben. Aber warum? Und warum jetzt? So sehr ich auch dar\u00fcber nachdenke, mir will partout kein Grund einfallen. Nach all den Jahren.<\/p>\n\n\n\n

 Warum gerade dieses Paar Schuhe? Es sind die Schuhe meines Vaters. Seine Dienstschuhe zur Uniform. Die Schuhe, die er jahrelang, jeden Morgen aufs Neue schn\u00fcrte, um sich dann auf den Weg in den Dienst zu machen.<\/p>\n\n\n\n

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Mein Blick fiel oft auf seine Schuhe, wenn ich an seiner Hand neben ihm ging: abends, nachdem ich auf ihn am Bahnhof gewartet hatte, auf dem Weg nach Hause.<\/p>\n\n\n\n

Der Bahnhof lag nicht allzu weit von unserer Stra\u00dfe entfernt. Meine Mutter hatte mich zwei, dreimal dorthin begleitet und dann festgestellt, ich sei wohl alt genug, um dort allein hinzugehen. Seither sagte ich nur kurz Bescheid und machte mich dann auf den Weg.<\/p>\n\n\n\n

Ich trieb mich gerne am Bahnhof herum. Der rote Backsteinbau mit seinem kleinen, gekachelten Wartesaal bot spannende Dinge f\u00fcr mich: Den Kaugummiautomaten, der immer wieder mal was auswarf, ohne Geld einzuwerfen, wenn es nur gelang, den schwerg\u00e4ngigen Hahn zu drehen. Was selten genug der Fall war. Wenn aber war die Vorfreude gro\u00df auf das, was sich beim \u00d6ffnen der Klappe im Schacht befinden mochte und dann war aber auch die Entt\u00e4uschung ebenso gro\u00df, wenn es sich nur um einen albernen Ring mit einem Edelstein aus Plastik handelte. Und was bittesch\u00f6n, sollte ich mit einem Ring f\u00fcr M\u00e4dchen anfangen?  <\/p>\n\n\n\n

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Blieben die Versuche, etwas aus dem Automaten zu bekommen erfolglos, gab es in der gl\u00e4sernen Kugel immer was zu sehen. Den Totenkopf zum Beispiel, mit den funkelnden Augen oder die vielen kleinen Figuren. Cowboys oder Indianer, Ritter oder Clowns.<\/p>\n\n\n\n

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Fand sich sonst drau\u00dfen hinter dem Haus niemand zum Spielen, trieb mich die Langeweile viel fr\u00fcher als n\u00f6tig zum Bahnhof:   Ich liebte es drau\u00dfen vor dem Bahnhof auf die kleine Mauer zu klettern, um von dort den Blick \u00fcber die Gleise hinweg auf ankommende oder abfahrende Z\u00fcge zu richten.  Es fuhren zwar nur wenige Z\u00fcge hier, aber wenn, dann f\u00fchlte sich das fast immer nach gro\u00dfem Abenteuer an. Gerade dann, wenn endlos lange G\u00fcterz\u00fcge durch den Ort ratterten und die minutenlang geschlossenen Schranken f\u00fcr ein kleines Verkehrschaos auf der Hauptstra\u00dfe sorgten.      <\/p>\n\n\n\n

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Auf dieser Mauer stehend erwartete ich schlie\u00dflich meinen Vater. Es dauerte unendlich lange bis der rote Triebwagen endlich am Bahnsteig hielt und die wenigen Menschen ausstiegen.<\/p>\n\n\n\n

Darunter mein Vater in seiner Uniform, in der Hand seine schmale und speckige Aktentasche. Ich hatte keine Ahnung davon, was mein Vater tags\u00fcber machte.  \u201eArbeit\u201c war ein so abstrakter Begriff f\u00fcr mich wie \u201ePension\u201c oder \u201eMiete\u201c, die oft bei uns zu Hause w\u00e4hrend des Abendbrotes zwischen meinen Eltern fielen.<\/p>\n\n\n\n

Er erz\u00e4hlte auch nie von seinem Tag, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Sein Tagesinhalt blieb f\u00fcr mich ein gro\u00dfes Geheimnis. Einmal sah ich im Fernsehen M\u00e4nner, die eine \u00e4hnliche Uniform wie mein Vater trugen. Sie trugen dort ein Gewehr um die Schulter und marschierten \u00fcber eine Stra\u00dfe. Das machte es f\u00fcr mich noch geheimnisvoller. Sp\u00e4ter fragte ich meinen Vater danach, ob er auch ein Gewehr hatte und auch warum er eine Uniform trug. Da schaute er mich an, streichelte meine Wange uns sagte, davon m\u00fcsse ich noch nichts wissen. Irgendwann vielleicht einmal, aber nicht jetzt. Und dabei blieb es. Und seine Uniform f\u00fcr mich so normal, wie meine kurze Hose im Sommer.<\/p>\n\n\n\n

Fast immer aber pfiff er ein Lied, wenn er \u00fcber den Bahnsteig auf mich zukam. Dabei hatte er ein L\u00e4cheln in seinem Gesicht, wenn er mich mit ohne Worte, nur mit einem Streichen seiner Hand \u00fcber meinen Kopf begr\u00fc\u00dfte. Sein Pfeifen und dazu dieses eigenartige Knarren der Schuhe, wenn er die F\u00fc\u00dfe aufsetzte, klingen bis heute in meinen Ohren.<\/p>\n\n\n\n

Schlie\u00dflich nahm er mich an die Hand und sagte, Feierabend, komm wir gehen nach Hause. Dann liefen wir stumm nebeneinander her. Wir redeten nur selten etwas miteinander. Wir liefen \u00fcber die alte Stra\u00dfe mit dem groben Kopfsteinpflaster bis zum Bahn\u00fcbergang. Sie hatte keinen B\u00fcrgersteig und wir mussten ein wenig aufpassen, denn wir wurden immer wieder von Autos \u00fcberholt.<\/p>\n\n\n\n

Ich ging gerne an der Hand meines Vaters. Sie war gro\u00df und warm und ich f\u00fchlte mich darin geborgen. Sie war so anders als die meiner Mutter: an ihrer Hand gehen zu m\u00fcssen, war mir oft unangenehm. Sie zog und zerrte oft an mir, nie ging ich im richtigen Tempo. Entweder war ich zu schnell oder zu langsam. Meist aber war ich zu langsam. Meine Mutter hatte es stets eilig. Ihre H\u00e4nde \u00fcbermittelten Befehle.    <\/p>\n\n\n\n

Mein Vater aber hatte es nicht eilig. Sein Tempo war gleichm\u00e4\u00dfig und angenehm zu laufen. An seiner Hand war das Laufen ein Kinderspiel. Ich schaute dabei nach unten, sah auf seine Schuhe und versuchte herauszufinden, an welcher Stelle des Schrittes genau, das Knarren der Schuhe entstand. Doch dies wollte mir nie so recht gelingen. Und irgendwann w\u00e4hrend unseres stummen Ganges wurde aus dem Knarren der Schuhe und dem Aufsetzen der Abs\u00e4tze auf dem harten Kopfsteinpflaster eine eigene Melodie. <\/p>\n\n\n\n

Wir querten die Bahnlinie und passierten das Hotel K\u00f6nig und die Mangelei Everding. Hier und da gr\u00fc\u00dfte mein Vater freundlich einige Leute, die uns entgegenkamen. Schlie\u00dflich, nur ein paar Minuten sp\u00e4ter, bogen wir in unsere Stra\u00dfe ein. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zu unserem Mehrfamilienwohnhaus, in dem wir unsere Wohnung unten links hatten. Manchmal sahen wir jetzt ein paar meiner Freunde, die auf der Stra\u00dfe mit dem Rad fuhren oder auf dem Rasen spielten. Aber nichts zog mich jetzt dorthin.<\/p>\n\n\n\n

Dann waren wir zu Hause. Es roch nach Abendbrot. In der K\u00fcche war der Tisch gedeckt. Mein Vater zog seine Schuhe aus, stellte sie vor dem Schuhschrank ab, holte das Schuhputzzeug, stellte es daneben, um sie nach dem Abendessen zu putzen.  Dann verschwand er im Schlafzimmer und zog sich um.<\/p>\n\n\n\n

So hatte alles seine Ordnung.<\/p>\n\n\n\n

So h\u00e4tte es ewig weitergehen k\u00f6nnen.<\/p>\n\n\n\n

\u00a9 Werner Pechmann, <\/p>\n\n\n\n

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