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Brief an …

Brief an Wolfgang

Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke

Aus „Ansichten eines Clowns“ von Heinrich Böll

Ich gebe es ja zu: Die Idee zu diesem virtuellen Brief ist nach ein paar Gläsern guten Weins entstanden. Also eine weinselige Idee. Sie ergab sich so: Ich saß am Tisch, las Zeitung und im Hintergrund lief „Niedeckens BAP“. Eine von mir zusammengestellte Playlist, die immer dann läuft, wenn es meine Stimmung verlangt. Zunächst liefen die Songs beiläufig, dann aber begannen Musik, Texte und der Zeitungsartikel den ich gerade las (ein ZEIT-Dossier über eine Reise durch Deutschland in Corona-Zeiten), ein Eigenleben zu führen. Der Text des Dossiers und die Songs wuchsen zusammen. Alles wurde eines. Eine eigene Dramaturgie. Am Ende stand der Entschluss: Wolfgang, ich muss dir schreiben. Wahrscheinlich lag`s am Wein.

Ihr Leser dieses Blogs verzeiht mir: Immer öfter stellte ich fest, dass Fotografie, Literatur, Kunst und Musik im Grunde Teile eines Ganzen sind. Sie sind Kinder der Kulturen der Welt und ihre Eltern sind Kreativität und Neugier. Deshalb hier mal etwas mehr Text und eben nicht über Fotografie – Die begleitenden Fotos dieses Beitrags sind im Mai 2011 auf der Domplatte an zwei hintereinander liegenden Abenden entstanden. Damals mit meiner Nikon D60 (und dem Kitobjektiv 18-55mm). Meiner ersten „Digitalen“ nach über zehn Jahren fotografischer Abstinenz.

Lieber Wolfgang,

wahrscheinlich kannst du mit Briefen an dich persönlich und BAP als Band den Weg nach Kreta pflastern. Das ist mir heute egal. (M) einen musst du jetzt erleiden (und ja: wahrscheinlich liest du ihn sowieso nie; weißt ja nicht einmal, dass es ihn gibt. Aber das ist egal!) Wo fange ich an? Im Herbst 1981. Eine Fete in einem Dorf in Nordhessen: Vor allem Schüler und Studenten, der Alkohol floss gut und reichlich. Es war nach Mitternacht, als Manni aus Bitburg (gesprochen „Bidbursch“) zum Auto wankte, und eine BASF Chromdioxidkassette (damals ja der ultimative Stand der Technik) holte: „BAP.“, kündigte er an “ müsst Ihr hören!“ – Ich weiß nicht mehr wieso, aber ich dachte direkt an Punk (den ich damals nicht mehr hören wollte) und verdrehte die Augen. Den Rest der Partygesellschaft interessierte das ohnehin nicht mehr… Manni schob einfach die Kassette in die Anlage… und ich hörte zum ersten Mal „Verdamp lang her“. Verstand nicht viel, aber war gefangen. Der Beginn einer Freundschaft. Der Rest ist Geschichte: Manni lieh mir das Band und ich hörte „für usszuschnigge“ hoch und runter. Das alles war irgendwie…. neu. Zwei Wochen später hatte ich das Album und endlich verstand ich auch die Texte. Und in mir brannte eine Flamme.

Von da an war irgendwie „nix wie bessher“ (auch wenn dieser Song in der Chronologie erst viel später auftauchte.) –

Wir freundeten uns immer mehr an, du und ich. Na gut, davon wusstest du nichts. Aber egal: Irgendwie warst du da. Und mit dir unsere Nähe zu Heinrich Böll (den ich verehrte und den ich noch immer verehre), zu Dylan und Springsteen (die ich verehrte und immer noch verehre).

Die Jahre flogen dahin: Und immer warst du mit deiner Musik präsent (mal mehr, mal weniger: nicht alle Alben waren der Hit für mich. Wie kann das auch gehen?). Konzerte in Hannover, ein skurriles Open-Air in Bad Salzuflen (wo der Hund begraben ist und gegen Endes der dreieinhalb Stunden Pizzableche auf die Bühne wanderten und niemand nach Hause wollte), die beiden Konzerte im Mai 2011 auf der Domplatte, ein Lese -Solo-Abend in Minden/Westfalen, Konzerte in der Lanxess Arena ein paar Jahre später, Zeltfestival in Freiburg und noch andere Steckdosen im Land, an denen ihr gespielt habt. Deine Texte waren nah an meinem Leben, erzählten von dem, was mich umtrieb, trafen immer den Nerv der Zeit und uns erzählten immer auch von den Zeiten, die mich nervten.

Vielleicht ist es das? Das gemeinsame Erleben einer/der Zeit? Sind wir einfach „zosamme alt“ geworden?

Wann immer das Leben auf die eine oder andere Weise zuschlug: immer gab es in Eurer Musik und in deinen Texten das Stückchen Halt, was mich (nicht selten an melancholischen Abgründen stehend) an die Hand nahm und mich wieder auf die Spur brachte: „Nemm mich met“ (besonders in der Tonfilm-Version), „Anna“, „Für `ne Moment“ , „Paar Dach fröher“ (gerne auch in der Version mit Meret Becker), Ach, was soll ich Songs rauspicken? Es ist das komplette Programm. Es ist zu einer Art Code meines Leben geworden. Nahezu jeder Song lässt sich einer meiner eigenen Lebensphase zuordnen,

Vielleicht ist es überhaupt das, was Musik und Musiker über mehrere Jahrzehnte trägt: Die Kunst, immer wieder den Kern seines Publikums zu treffen, es zu berühren und mit ihm gemeinsam das eigene Leben zu reproduzieren?!

Wegen dir, Wolfgang, heißt dieser Blog und das, was ich tue „AlleAugenblicke“. („All die Aureblecke“) … you know?

Längst ist dieser Blog so ne Art Tagebuch geworden (oft will ich es mir einfach nicht eingestehen) und mir war einfach danach, dir all das mal zu schreiben. Weinselig eben.

Und auch mit dem aktuellen Album „alles fließt“ triffst du mich wieder dort, wo ich mich gerne berühren lasse. Ja, Wolfgang, alles ist im Fluss. Du, ich, wir alle.

Hoffentlich noch lange Rock ’n‘ Roll und was dazu jehört.

Danke für alles

Werner

18 Kommentare

  1. Bludgeon

    Yep. Bei mir wars „Ne schöne Jroooß“ im Fernsehen damals. ARD. Ich glaube in der „Plattenklüche“ oder war das schon „Känguru“? Und dann natürlich all die berühmten Verdächtigen: Verdamp lang her, Kristallnaach, ahner Leitplanck, Müsliman, plant mich bloß nit bei euch in… – aber zu oberst: „Hey du da“ das Ost/West-Politikum, das Wolfgang bis heute nicht verstanden hat. Neulich gabs im WDR eine Dokumentation mit ihm selber über jene geplatzte 1984er Tour durch die DDR., da war das deutlich zu spüren. Aber der Song – ein Monolith!. Was haben wir damals Bap INHALIERT! Die halbe „Bess demnähx“ auswendig gekonnt. Die „Aahl Männer aalglatt“ abgefeiert. Nach der „Da capo“ lief sich die Sache dann aber bissl tot.

    • AlleAugenblicke

      Hat irgendeine Band und/oder Künstler das WEst/Ost Publikum tatsächlich verstanden? Manchmal zweifele ich daran, dass wir Wessies wirklich verstanden haben, was da so los war. Und: „kranken“ wir nicht gemeinsam bis heute daran?
      Liebe Grüße,
      Werner

      • Bludgeon

        Stimmt. Nur entstand eben durch den Text von „Hey du da“ der Eindruck, der Niedecken hätte was kapiert. Er nahm „uns“ ja quasi die Worte aus dem Mund (um mit Meat Loaf zu reden). Aber dem war nicht so. Und wie er da in der Doku 2019 bei Hartmut König (Ex-FDJ-Bonze und Tourverhinderer) aufschlägt und sich einwickeln lässt – das war schon enttäuschend. Aber Achselzuck. Es stimmt schon, es reicht nicht Marx und Christa Wolf zu lesen, um die DDR zu verstehen. Da fehlt die Alltagssozialisation – wie uns umgekehrt ja auch für soviele Seltsamkeiten des Westens.

    • AlleAugenblicke

      Danke, Bernd!

  2. Wunderbar, lieber Werner!

    In der Kellerbar (Schwarzlicht-Glühbirnen, Disco-Kugel, Holzvertäfelung, Dart-Scheibe, Kicker, Linoleumboden…), die dem Vater meines Freundes gehörte, lief damals zu irgendeiner der Feten eine Scheibe von BAB. Alle außer mir kannten die Band. Und dann kam “du kanns´ zaubre”…oh man. Ich liebe diesen Song ungebremst bis heute, Und ich wenn ich den Herren Heuser und Niedecken für was dankbar bin, dann dafür.

    Und dir für die Erinnerungsrolle rückwärts in eine echt gute Zeit…

    • AlleAugenblicke

      SO und so ähnlich war es wohl bei uns allen (Kellerbar und so….)
      Wie gut ist, sich hier und da daran zu erinnern

  3. oli

    Ich bin etwas jünger als Du, daher war es mein großer Bruder der „für usszeschnigge!“ angeschleppt hat. Ich war damals Textsicher bis „X für ’e U“. Damals habe ich BAP musikalisch nicht mehr folgen können – es waren trotzdem gute 10 Jahre in der mit Wolfgang und BAP begleitet haben. In guten Tagen, in den nicht ganz so guten Tagen.
    BAP war für mich immer BAP – nicht nur Wolfgang. Spätestens mit Major ist für mich BAP nicht mehr BAP.
    2012 war ich dann nochmals auf dem Tollwood in München und hab Wolfgang zugehört. Es war wirklich einmalig und toll – auch wenn ich nur noch einen Bruchteil der Lieder kannte. Aber bei den alten Gassenhauer konnte ich echt noch gut mitsingen.

    Mir war die enge Beziehung zwischen deinem Blog und den Texten und Emotionen von BAP nicht bewusst – unglaublich interessant also diesen kleinen Einblick in deine Geschichte lesen zu dürfen und mal wieder eine kleine Gemeinsamkeit entdecken zu können.

    Keep on Rocking!

    • AlleAugenblicke

      Ja, so ist das mit mir, BAP und dem Wolfgang. 🙂 – Danke fürs Teilnehmen. Und ja: Keep on Rocking!

      Liebe Grüße,
      Werner

  4. stefanie

    Hey, der Brief ist doch toll. Ich kann mir vorstellen, Wolfgang würde sich total darüber freuen. Er wohnt in der Mainzerstraße oder da ums Eck. Kann ich bei meinem nächsten Köln Besuch dort vorbeibringen ? Künstler wie er bekommen gar nicht so viel Post, denkt man immer, aber hinschicken würd Ich’s schon. MIT FOTOS! Die sind klasse.
    Tschö ?

    • AlleAugenblicke

      Ach nee. Damit geht man anderen nur auf den Zeiger. Ist ein rein privater Spaß. Ein Teil meines Lebens. Teil meines Tagebuchs.
      Liebe Grüße,
      Werner

  5. lieber werner, das sind wunderschöne worte, die es in jedem fall wert sind geschrieben zu werden und vielleicht, vielleicht auch einmal von dem gelesen, an den sie adressiert sind. ich kenne von BAP ja nur „niemals geht man so ganz“, habe ich vor sehr vielen jahren einmal empfohlen bekommen.
    ich verstehe dich gut, diese verbindung und verbundenheit zu einem künstler. du hast es ja eh bei mir auch schon ein bisschen gelesen, wenn es sich bei mir auch anders ausprägt. ich denke es ist dennoch schön, etwas derartiges erlebt zu haben und empfinden zu können.

    • stefanie

      ……und es ist auch für die Künstler schön, solche Post zu bekommen. Ich weiß das von einem großen, einsamen Zauberer der so umjubelt wurde und ich habe ihm geschrieben, weil mein kleiner Sohn seine Show so toll fand und da schrieb der Zauberer an meinen Sohn: Danke für eure Post, ich habe mich so magisch gefreut einen so schönen Brief zu bekommen. Und er sagte auch, dass sich Künstler mehr über solche Briefe freuen als über den Applaus…..:)

  6. Lieber Werner,

    ich habe gerade Tränen in den Augen. Ein wunderbarer Artikel, der mir zeigt, dass ich nicht verrückt bin, mit der Nähe ich manchmal zu “meinen” Bands fühlte. Auch ich habe einmal einen Brief an einen Musiker geschrieben und mich bei ihm bedankt. Nein, es war nicht der Wolfgang ;-). BAP fand ich immer irgendwie klasse, aber durch den Dialekt waren sie auch irgendwie weiter weg. Meine Lieblingssongs sind “Kristallnaach” und “Eins für Carmen un en Insel” , sehr alte Stücke also. Ich weiß, ich habe sicher viel verpasst und vielleicht finde ich irgendwann die Zeit, da Einiges nachzuholen.

    Dein Blog wird immer persönlicher und das finde ich schön. Berührend. Interessant. Inspirierend.

    Liebe Grüße

    Conny

    • AlleAugenblicke

      Danke Conny. Nein, man ist nicht verrückt, wenn man sich den Emotionen hingibt und Nähe und Wärme für seine „Bands/Musiker/Schriftsteller/Fotografen…. etc“ empfindet. Denke ich jedenfalls… Ich kann nicht anders. Es ist ja ein Teil von mir.
      Und ja: Es wird persönlicher. Ich lasse ein wenig mehr zu. Dieser Blog ist ja längst Teil meiner persönlichen DNA 🙂
      Ganz liebe Grüße,
      Werner

    • AlleAugenblicke

      Oh, vielen Dank!!!

  7. Und nun ist er 70 Jahre alt geworden.
    Einer der Helden meiner, unserer Zeit, und er ist noch da….

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